Aufruf zum Antifaschistischen Straßenfest 2004

Das traditionelle Maiansingen der Studentenverbindungen ...
„Der CDU-Stadtbezirksverband Altstadt/Schlierbach möchte zusammen mit den Heidelberger Studentenverbindungen die Tradition des Maiansingens am Herkulesbrunnen wiederbeleben ...“, schrieb die Rhein-Neckar-Zeitung am 18. April 2001.
Bezug genommen wird hierbei auf das traditionelle Maiansingen Heidelberger Studentenverbindungen, bei dem am Vorabend zum 1. Mai rechte Burschenschaften ihre reaktionäre Weltanschauung öffentlich zelebrierten. So zogen die Burschenschafter in Couleur (d.h. mit Mütze und Band in den Verbindungsfarben) mit Fackeln und Degen, volkstümliches Liedgut von sich gebend, durch die Heidelberger Altstadt. Dass hierbei auch jedes Mal das „Deutschlandlied“ in allen drei Strophen („Deutschland, Deutschland über alles ...“, „Von der Maas bis an die Memel ...“) geschmettert wurde und immer wieder Besuch aus der organisierten Neonaziszene anwesend war, offenbart den reaktionären Charakter dieser Traditionsveranstaltung. Pöbeleien, Angriffe auf Andersdenkende und rassistische Übergriffe gehörten dementsprechend zum Repertoire dieses Abends.

... und der antifaschistische Widerstand
Seit den 1980er Jahren formierte sich allerdings ein permanent breiter und entschlossener werdender antifaschistischer Widerstand gegen diese öffentliche Darstellung nationalistischer und frauenfeindlicher Ideologie, so dass der Fackelmarsch nur noch unter erheblichem Polizeischutz möglich war.1997 gelang es schließlich erstmals, die grölenden Burschenschafter vom Marktplatz fern zu halten.

6 Jahre Antifaschistisches Straßenfest
Seither wird versucht, den frei gewordenen öffentlichen Raum mit linken emanzipatorischen Inhalten zu besetzen. Deshalb führen Heidelberger Antifa-Gruppen seit 1998 alljährlich am 30. April ein Antifaschistisches Straßenfest auf dem Universitätsplatz durch, bei dem neben Infoständen auch AgitProp-Theater, Musik von Live-Bands und DJ(anes) und vieles mehr geboten wird. Dabei gilt weiterhin, in dieser Nacht in der Altstadt präsent zu sein, die Umtriebe der Burschen zu verhindern und deutlich zu machen, dass Korporationen abgeschafft gehören. Darüber hinaus wurde das Antifaschistische Straßenfest auch immer zur Information über andere Themen genutzt. So wurden schon der Kampf für ein neues Autonomes Zentrum (1999 und 2000), „Innere Sicherheit“ (2001), die Übereinkunft zwischen bürgerlicher Überwachungsgesellschaft und autoritärem Sicherheitsstaat (2002) sowie das Zusammenspiel zwischen reaktionären Biedermännern und neofaschistischen Brandstiftern (2003) zum Thema des 30. April.
2004 wollen wir diesen Tag unter das Motto „Faschistische Traditionslinien kappen – Gegen Revisionisten aller Couleur“ stellen. Einige Gedanken zu Revisionismus und speziell zur Täter-Opfer-Verkehrung könnt ihr im nachfolgenden Text lesen.

Deutschland halts Maul ...
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchen die Deutschen, den Holocaust zu bewältigen, wobei damit nicht gemeint ist, dass aus der Geschichte gelernt werden soll, sondern dass das Erinnern an den Holocaust so verändert werden soll, dass er neuerlichem deutschen Großmachtstreben nicht mehr im Wege steht.
Auf diese Weise wurden verschiedene Verfahren der Schuldloslösung durchlaufen, die vom kollektiven Von-nichts-gewusst-haben-wollen, Ignorieren und Leugnen bis zu der, vor allem in den letzten Jahrzehnten verstärkt betriebenen, Universalisierung der Shoa reichen. Hierbei soll der von den Deutschen begangene Zivilisationsbruch aus seinem historischen Kontext und der damit verknüpften Frage nach Ursache und Schuld gelöst werden. Die Shoa kann nun als universeller „Code des Bösen“ verwendet und mit anderen Verbrechen verglichen werden. Übrig bleiben sollen die individuellen Erfahrungen von Leid, die es den Deutschen ermöglichen, sich nicht mehr als TäterInnen fühlen zu müssen, sondern endlich auch ihre eigenen Wunden öffentlich präsentieren und lecken zu können. Besonders infam ist, dass darüber hinaus eine gesteigerte Sensibilisierung der Deutschen abgeleitet wird, die geradezu danach verlangt, überall als moralische Instanz auftreten und nach Möglichkeit auch mit Waffengewalt intervenieren zu wollen. Der Jugoslawienkrieg in dem Deutschland wieder einmal, diesmal nur in Koalition mit anderen, über den Balkan herfiel und dies infamerweise auch noch damit begründete, ein „Auschwitz“ verhindern zu müssen, ist das momentan wohl präsenteste Beispiel.

... und lass die Welt in Ruh’...
Zum Verständnis der Änderung des Erinnerns von Leugnung zu Universalisierung empfiehlt es sich, zwischen individuellem und institutionalisiertem Gedenken zu unterscheiden, auch wenn diese Trennlinie so klar in der Realität nicht zu finden ist. Hinzu kommt, dass das individuelle Erinnern eher volksgemeinschaftlich geprägt ist: Es ist widerspruchsfrei, konzentriert sich auf eigenes Leid, moralisiert, ist zeitstabil, bildet den Kernbestand des deutschen Erinnerns, fordert den Schlussstrich ein und rekurriert, wenn von „Bombenterror“ oder „Kollektivschuldvorwürfen“ die Rede ist, auf NS-Propaganda. Demgegenüber steht das institutionalisierte Erinnern, das vor allem zivilgesellschaftlich geprägt ist: Die Shoa ist medial stark thematisiert, normative Standards im öffentlichen Umgang mit ihr sind bekannt und werden eingehalten, Verstöße gegen diese Normen werden teilweise sogar geahndet. In Wirklichkeit werden die warmen Worte des Gedenkens allerdings nur benutzt, um die politischen Kräfteverhältnisse in der Form zu modifizieren, dass die eigenen Bestrebungen wieder frei und ungehemmt walten können. Schlussstrichdiskurse sowie offen nationalsozialistische und/oder antisemitische Argumentationen sind hierbei nicht zuträglich und werden abgeblockt.
Wie bereits erwähnt, ist die klare Trennung zwischen volksgemeinschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Erinnern ein analytisches Instrument. In der Realität stellt sich die Sache eher so dar, dass das deutsche Erinnern einen volksgemeinschaftlichen, regressiven Kern aufweist, der den zivilgesellschaftlichen überformt, aber dennoch stabil ist. Die zivilgesellschaftliche Komponente stellt keineswegs das progressive Gegenstück zur volksgemeinschaftlichen dar, sondern dient lediglich dazu, die „dunklen Seiten“ des deutschen TäterInnenkollektivs besser zu integrieren und nach außen ein „Wir haben aus unserer Geschichte gelernt“ zu vermitteln.

... ein fetter Sack bist du ...
Ein gerade in letzter Zeit beliebtes Mittel, um die TäterInnengeneration zu entlasten, ist der Boom der so genannten ZeitzeugInnenschaft. Hierbei wird ein Mittel verwendet, dass eigentlich von der amerikanischen Holocaustforschung entwickelt wurde, nämlich die Oral History. Grundlage der Oral History ist, dass der Holocaust das bisherige Verständnis von Geschichte zunichte gemacht hat. Ging die Geschichtsschreibung bisher davon aus, dass Geschichte einen gesetzmäßigen Verlauf nimmt und vermutete dahinter eine geschichtliche Vernunft, steht sie mit dem Holocaust vor dem Problem, dass sich die fabrikmäßig organisierte Vernichtung vor allem jüdischer Menschen weder mit einem Gesetz noch mit einer Vernunft der Geschichte vereinbaren lässt. Um einen Zugang zu diesem „ahistorischen“ Ereignis zu ermöglichen, müssen Einzelschicksale betrachtet werden, die in der klassischen Geschichtsschreibung sonst als „nicht zur historischen Faktenlage beitragend“ angesehen wurden. Darüber hinaus soll die Oral History den Opfern des Holocaust ein Werkzeug an die Hand geben, um die von den TäterInnen vorgenommene und legitimistisch eingesetzte Homogenisierung zu einem Kollektiv durch das Erinnern an die individuell erlebten Schrecken rückgängig machen zu können.
Dieses Konzept wird im Sinne einer feindlichen Übernahme auf die deutsche TäterInnengeneration angewandt. Indem so genannten ZeitzeugInnen die Möglichkeit gegeben wird, von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen, ohne dass kritische Nachfragen und Einordnungen vorgenommen werden, eröffnet sich die Möglichkeit der Entkontextualisierung des Geschehenen. Die Erfahrung von Leid wird in den Mittelpunkt gestellt, gereinigt von jeglichen Überlegungen, wie eben dieses Leid verursacht wurde: Eine historisch fundierte Bedingungs- und Schuldspezifik der Leid verursachenden Umstände wird vermieden. Die übrig bleibenden Leiderfahrungen können nun miteinander verglichen und somit das spezifische Moment der Shoa geleugnet werden. Darüber hinaus werden in den ZeitzeugInnen-Erzählungen rassistische und antisemitische feindbildhafte Stereotype weitergeschrieben, z.B. wenn von „den Russen“ und „den Juden“ die Rede ist.
Wenn sich die beteiligte Generation an den Zweiten Weltkrieg erinnert stehen Erfahrungen im Vordergrund, die es erlauben, sich selbst als Opfer zu verstehen: Fronterfahrung, Vertreibung und „Bombenkrieg“. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus spielt zwar im zivilgesellschaftlich geprägten und medial stark präsenten institutionalisierten Gedenken eine große Rolle, im individuellen Erinnern kommt er allerdings so gut wie nicht vor. Verweist er doch auf Handlungsalternativen und legt somit die Frage nach der eigenen Schuld nahe.
Die nachfolgende Generation glaubt, sich durch die oberflächliche Auseinandersetzung mit der TäterInnengeneration in den 1968ern reingewaschen zu haben und verfolgt nun vehement und geradezu aufdringlich die Rehabilitierung deutscher Großmachtinteressen. Dass dabei auch die Eltern und Großeltern von ihrer Schuld freigesprochen werden ist mehr als nur ein angenehmer Nebeneffekt.

... der immer wieder nach der Weltmacht greift
Augenscheinlich wird dies bei der Betrachtung des institutionalisierten Gedächtnisses und den für seine Präsentation verantwortlichen vermeintlichen ErinnerungsexpertInnen (und ihren [Mach]Werken), welche die relevante Literatur liefern, die Debatten über öffentliches Gedenken konturieren und faktisch die Erinnerungspolitik bestimmen.
So z.B. die Gleichsetzungsstrategie à la Guido Knopp, seines Zeichens Hobbyhistoriker und geschickter Chefrevisionist des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Von den Deutschen begangenes Unrecht wird zuerst pauschal anerkannt und auf die menschliche Leiderfahrung fokussiert, um schließlich, gemäß der Formel „Mensch = Mensch“, das den Deutschen von anderen zugefügte Leid in den Mittelpunkt stellen zu können. Da ist es nur konsequent, dass sein Kollege Jörg Friedrich (Autor des den Deutschen aus der Opferseele sprechenden Buches „Der Brand“) noch einen Schritt weiter geht: Nicht nur präsentiert er die Auswirkungen des „Bombenkrieges“ in eindeutiger Shoa-Ikonographie und stellt damit zwischen den Zeilen die Singularität von Auschwitz in Frage. Seine Beschreibung der zerstörten Städte und der alliierten Bomberverbände wird zur Anklage gegen die GegnerInnen des Nationalsozialismus, während die Notwendigkeit eines Sieges über Nazideutschland und die Konzentrationslager nahezu unerwähnt bleiben. An dieser Stelle kann darauf hingewiesen werden, dass die Gedenktage an die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, die in vielen deutschen Städten seit Kriegsende jährlich begangen werden, nach eben diesem Muster verfahren.
Auch die „traumatisierenden Fronterfahrungen“ deutscher Kämpfer für die „arische Rasse“ und den Lebensraum im Osten sind ein beliebtes Thema. Sei es aus Anlass des Stalingradjubiläums oder im Rahmenprogramm der Ausstellung, die eigentlich angetreten war, sich mit den Verbrechen eben jener Truppe auseinanderzusetzen und schließlich solange überarbeitet wurde, bis sie der Wehrmacht en gros einen Persilschein ausstellen konnte: Die Leiden der deutschen Soldaten können nicht genug betont werden.
Ohne hier weiter auf die von den deutschesten aller Deutschen, den Vertriebenenverbänden, angestoßene Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibung“ und die Salbung ihrer Wunden in Günter Grass´ „Im Krebsgang“ eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass sich die Liste der Beispiele beliebig fortführen ließe.

Das „Heldengedenken“ ...
Doch auch im beschaulichen Heidelberg ist die Täter-Opfer-Verkehrung ein rege frequentiertes Thema. Nicht nur, dass dem deutschen Volks- und Fühldichter Martin Walser immer wieder in der Universität ein Forum geboten wird, um seinen braunen Stuss hochzuwürgen, auch beim Thema institutionalisiertes Gedenken ist die Stadt vorne mit dabei.
So finden sich jedes Jahr zum „Heldengedenken“ auf dem von den Nazis errichteten „Ehrenfriedhof“ RepräsentantInnen der Stadt, der Streitkräfte und von diversen Studentenverbindungen ein, um - wie es auf der nachträglich angebrachten Platte am an einen Opferaltar erinnernden Stein steht - „Den Opfer von Krieg und Gewalt“ zu gedenken. Dass hier vor allem Kränze für die gefallenen deutschen Vernichtungskrieger niedergelegt werden und in patriotischen Reden betont wird, dass deutsche „Soldaten weiter in Kriege ziehen [müssen], um Recht und Freiheit zu schützen“ (Bürgermeister Raban von der Malsburg nach RNZ vom 18.11.2002), war schon mehrfach für uns Anstoß, um gegen das traute RevisionistInnen-Stelldichein vorzugehen.

... und andere Heidelberger Widerlichkeiten
Die sich auf dem „Ehrenfriedhof“ besonders hervortuende Heidelberger Burschenschaft Normannia spielt aber auch auf dem Gebiet des individuellen Gedenkens in der oberen Liga. So waren ihre Mitglieder von der antisemitischen Rede des mittlerweile geradezu widerwillig abgeschalteten Volksempfängers Martin Hohmann so begeistert, dass sie gleich ein neues Periodikum mit dem einfallsreichen Titel „Im Wortlaut“ herausbrachten, in dem die Rede in eben diesem abgedruckt war und das vor der Universität verteilt wurde. Offener Bezug auf antisemitische Verschwörungstheorien gehört sowieso zum Repertoire der Normannia, was spätestens seit ihrer Flugblattaktion vom März 2000 deutlich sein dürfte, bei der ein der neonazistischen Zeitung „Unabhängige Nachrichten“ (UN) entnommener Text in der Heidelberger FußgängerInnenzone verteilt wurde.
Zudem führen die „Normannen“ immer wieder gerne Veranstaltungen mit RednerInnen aus dem rechtsextremen Spektrum durch und ziehen damit das entsprechende Publikum an. So besuchten im Dezember 2003 auch Mitglieder der neofaschistischen NPD eine Veranstaltung mit dem Titel „Der Krieg der viele Väter hatte“ auf dem Haus der Normannia, in der General a.D. Gerd Schultze-Rhonhof seine revisionistischen Ansichten über den „lange[n] Anlauf zum Zweiten Weltkrieg“ (Zitat aus der Veranstaltungsankündigung) verbreiten konnte.
Obwohl die Normannia offensichtlich aus voller Überzeugung in der braunen Suppe schwimmt, haben die meisten anderen Heidelberger Verbindungen keine Angst davor, sich die Finger schmutzig zu machen, und zeigen kaum Berührungsängste.

Revisionisten und (ihr) Deutschland an die Leine legen
Die alten Traditionslinien bestehen also ungebrochen fort. Allerdings gelingt es der mittlerweile in Stellung gebrachten Täter-Opfer-Verkehrung und Universalisierung des Leides der Opfer weitaus besser als den verschiedenen Vorgängermodellen, die „dunklen Seiten“ der deutschen Vergangenheit zu integrieren und die Nation wieder unter dem schwarz-rot-goldenen Banner zum Griff nach neuer Weltmacht – diesmal nur im Rahmen eines deutsch-dominierten Europas – zu einen. Dass hierbei die Legitimation von irgendetwas wie Deutschland nach dem begangenen Zivilisations- und Geschichtsbruch der Shoa und der nicht stattfindenden sinnvollen Auseinandersetzung damit nicht angezweifelt wird, ist das Ergebnis von seit bald 60 Jahren erfolgreich betriebener revisionistischer Geschichts- und Erinnerungsarbeit. Hier gilt es für uns, anzusetzen und die deutsche Geschichtsklitterung zu bekämpfen!

Faschistische Traditionslinien kappen!
Gegen Revisionisten aller Couleur!

Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD), April 2004