Denker, die die Welt nicht braucht

Vom 10. bis 12. Dezember 2004 veranstaltet das Deutsch-Amerikanische Institut Heidelberg (DAI) eine Internationale Konferenz zum Thema „Menschenwürde und Wissenschaft“. Laut Einladung auf www.dai-heidelberg.de ist bei dem „zutiefst von der Kraft der Demokratie überzeugt(en)“ DAI die Entscheidung gereift, hierzu auch den Ethikprofessor der Universität Princeton, Peter Singer, einzuladen. Neben dem als „einflussreichster Ethiker unserer Tage“ betitelten und viele Gemüter bewegenden Singer sollen u. a. Martha Nussbaum (Chicago), Rüdiger Wolfrum (Heidelberg), Reinhard Merkel (Hamburg) und Julian Nida-Rümelin (München) als GarantInnen für eine nüchterne Diskussion über Ethik und Forschung stehen. Dabei sieht sich das DAI „als angemessener Platz“ im „transatlantische(n) Ringen um den versöhnlichsten Weg von Ethik und Forschung“ (ebd.). Die Darstellung schließt mit der rhetorischen Finte: „Unterbundene Auseinandersetzungen bestraft das Leben“ (ebd.).

Gegen die Tradition der Euthanasie im Land der Richter und Henker!
Das Gegenteil ist der Fall: Das Führen einer Debatte um „lebensunwertes“ Leben beinhaltet stets die Konsequenz, diejenigen, die als „unwert“ betrachtet werden, mit der Infragestellung ihrer „Lebensberechtigung“ zu bedrohen. Unsere Bereitschaft, zu diskutieren, hat da eine Grenze, wo wertes und unwertes Leben definiert werden. Wer das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung in Frage stellt, ist potenziell auch ihr Mörder. In der Diskussion um die Thesen Singers ist die Auseinandersetzung mit der  „Wertigkeit von Leben“ zwangsläufig. Schließlich zeichnet sich der als Philosoph utilitaristischer Denkrichtung bekannte Singer gerade durch diese Unterscheidung aus.
Wir halten die Verhinderung der Veranstaltung für gerechtfertigt. Singers „Praktische Ethik“ hat eine sehr konkrete gesellschaftliche Funktion: Indem Singer die Tötung von Menschen mit Behinderung(en) unter bestimmten Voraussetzungen für moralisch gerechtfertigt erklärt, liefert er die ethische Grundlage, auf der Auslese und Vernichtungspolitik öffentliche Akzeptanz gewinnen. Die Störung und Verhinderung von Veranstaltungen, in denen Singers Thesen im „wissenschaftlichen Rahmen“ diskutiert werden sollen, stellen den Versuch dar, der Anpassung der herrschenden Moral an die Brutalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse Einhalt zu gebieten. Die argumentative Toleranz, die gegenüber Singers Thesen eingefordert wird, ist die gleiche, die eine Diskussion über die These von der Überlegenheit der „arischen Rassen“ erlaubt. In beiden Fällen muss aber der zu Grunde liegende Wille, Menschen überhaupt als ungleichwertig erkennen zu wollen, bekämpft werden.

Von rationalem Kosten-Nutzen-Kalkül ...
Peter Singers politisch-philosophische Agenda gründet nach wie vor auf den Thesen, die er in seinem Buch „Praktische Ethik“ von 1984 dargelegt hat. Dieses Buch stellt den Versuch dar, eine rationale und konsistente Lösung für die unterschiedlichsten Probleme der angewandten Ethik zu erarbeiten und legt dabei die Prämissen von Singers Denken offen. Charakteristisch für seine geradezu ökonomistische Sicht und seinen präferenzutilitaristisch grundierten Reduktionismus ist, dass er hier nicht von handelnden Subjekten schreibt, sondern stets von passiven Wesen, denen etwas geschieht. Er reflektiert nicht das Zusammen- und Gegeneinanderwirken bestimmbarer Interessen konkreter Menschen und Gruppen in der Gesellschaft; er betrachtet stattdessen ein isoliertes und vereinfachtes Handelnder-Behandelter-Schema. Alle sind anonym wirkenden Kräften ausgesetzt, ohne selber tätig zu werden. Sie erleiden ihr Leben – führen es nicht. So verwandelt sich in dieser oberflächlichen Analyse und unter dem taxierenden Blick Singers alles in quantitativ zu erfassende und stets durch Vergleiche zu nivellierende Größen. Diese werden anhand des Wertmaßstabes der UtilitaristInnen – dem Nutzen der Mehrheit – eingeteilt und bewertet. Singers Modifikation dieses Wertmaßstabes liest sich dabei folgendermaßen: „Der Handlungsbedarf, der per saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat“ (Praktische Ethik, S. 322).
Grundsätzlich setzt Singer seine ganze Hoffnung in den Fortschritt und ist bereit, jeden Preis dafür zu zahlen. Kosten-Nutzen-Hierarchien möglichst vernünftig zu gestalten, wobei die Vernunft instrumentell verstanden wird, ist die Idee, die seine „Ethik“ durchzieht.
Ausgehend von dem Leitmotiv, dass wir, wenn wir „das Prinzip der Gleichheit als eine vernünftige Basis für unsere Beziehungen zu den Angehörigen unserer Gattung akzeptiert haben, auch verpflichtet (sind), es als eine vernünftige moralische Basis für unsere Beziehungen mit Lebewesen außerhalb unserer Gattung anzuerkennen – den nichtmenschlichen Lebewesen“  (ebd., S. 70), verlangt er, dass die Interessen leidensfähiger Lebewesen in gleichem Maße berücksichtigt werden müssen wie menschliche.
Für experimentelle Forschung an Lebewesen hat das für Singer  folgende Konsequenzen: „Wenn die Forscher nicht bereit sind, verwaiste Menschen (...) mit schwerwiegenden und unheilbaren Gehirnschäden zu verwenden, dann erscheint ihre Bereitschaft, Tiere zu verwenden, eine Diskriminierung allein auf Grundlage der Gattung zu bedeuten“ (ebd., S.84).
Singer tauscht in seiner Ethik-Gleichung die Faktoren gegeneinander aus, unter dem (Bruch-)Strich stehen künftig nicht mehr Mäuse und Affen, sondern „Geistigbehinderte“.
Die Aufwertung des Tieres ist für Singer nur bei gleichzeitiger Abwertung des Menschen, speziell des „geistesgestörten“ Menschen, möglich. Sie lässt den Terror einer Normalität, der nur im industriellen Sinne leistungsfähige Menschen als solche behandelt wissen will, als umfassende Barmherzigkeit erscheinen.
Gesellschaftliche Normalität wird hierbei nicht ideologiekritisch bestimmt, sondern konstituiert sich in Abgrenzung zu allem Andersartigen. Was dabei als „normal“ und was als „anders“ klassifiziert wird, gründet sich auf von der Mehrheit festgelegten Normen, die u. a. von der Verwertungslogik des kapitalistischen Systems bestimmt sind. Ein solches Verständnis von Normalität und auf ihr beruhender Gleichheit ist nicht emanzipatorisch; es stumpft ab. Ziel bleibt einzig, die Verhältnisse zu optimieren, nicht sie zu verändern.

... zu Euthanasie und Mord!
Singer, laut Ernst Klee (Historiker) „die Symbolfigur neuerlicher Euthanasieforderungen“, legitimiert darüber hinaus die Auslöschung ganzer Gruppen von Menschen, die von einer biologischen Norm abweichen. So spricht er beispielsweise „missgebildeten Säuglingen“ ab, Person zu sein, weil sie Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein nicht hätten. „Sie zu töten, kann daher nicht gleichgesetzt werden mit dem Töten normaler menschlicher Wesen [...] Angenommen, eine Frau, die zwei Kinder geplant hat, hat ein normales und bringt dann ein hämophiles zur Welt. Die Belastung, die dieses Kind bedeutet, mag zwar den Verzicht auf ein drittes Kind unvermeidlich machen; sollte aber das missgebildete Kind sterben, so würde sie noch ein Kind bekommen. Und es ist plausibel, anzunehmen, dass die Aussichten auf ein glückliches Leben für ein normales Kind besser wären als für ein hämophiles. Sofern der Tod eines Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glücklicheres Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird“ (ebd., S. 179ff).
Abgesehen davon, dass das von Singer angeführte Beispiel der Hämophilie (= Bluterkrankheit) keineswegs eine  untherapierbare, schicksalhafte Krankheit darstellt, sondern im Gegenteil heute verhältnismäßig einfach zu behandeln ist, betrachtet Singer die Situation lediglich aus der Perspektive der sich für „normal“ Haltenden. Die Perspektive der Betrachteten, die an „Normalität“ sicher andere Maßstäbe anlegen, kommt in seinen Ausführungen nicht vor. Doch die Konsequenz von Singers konstruiertem Fall ist noch viel weitreichender: Leben selbst bedeutet nichts mehr.

Es wird nur gebraucht, um ein Quantum Leistung abzuliefern und das dementsprechende Maß an „Glück“ zu kassieren; es ist zum Instrument verdinglicht. Taugt es nicht mehr, wird es ausgetauscht bzw. beendet.
Nicht einmal durch die barbarische Geschichte der Euthanasie lässt sich Singer von seiner  Forderung abbringen: „Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber es bedeutet nicht, dass alles, was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebenso wenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen können“ (ebd., S.169).

Ein bisschen Töten und ein bisschen Selektion gibt es nicht!
Allerdings erschöpft sich unsere Kritik an der Konferenz nicht in der Einladung Singers. Vielmehr geht es um die grundsätzliche Funktion, die Diskussionen über Bio-Ethik und Euthanasie innerhalb des Nationalstaats haben. Dass immer wieder aufs Neue attackiert wird, dass Menschen, unabhängig davon, wie leistungsfähig und anpassungsbereit sie sind, welches Geschlecht oder welche Hautfarbe sie haben, prinzipiell gleichberechtigt sind, reicht aus, eine Diskussion in Gang zu setzen, die sich als Euthanasie-Kampagne entwickelt, nicht als Kontroverse. Die EthikerInnen degradieren ihr Denken zur anwendungsorientierten Wissenschaft und erheben sich zu RichterInnen.
Um „Euthanasie“ zu einer gesellschaftlich legitimierten Maßnahme zu machen, bedarf es entweder eines totalitären Zugriffs auf weite Teile der Gesellschaft oder einer Umwertung zentraler Werte. Letzteres muss nicht durch aggressive Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden. Es genügt, die Individuen zu motivieren, sich freiwillig so zu verhalten, dass sie letztlich zu jeglicher autoritären Formierung innerhalb der Leistungsgesellschaft bereit sind.
Dies ist charakteristisch für eine politische Kultur, die von falschem Bewusstsein geformt wird und dieses selbst immer weiterentwickelt: Statt die irrationalen Verhältnisse überwinden zu wollen, in denen Freiheit nur immer die Freiheit, etwas hinzunehmen und mitzumachen ist, wird versucht, sich in diesen Verhältnissen so einzurichten, dass die gesetzten Grenzen möglichst wenig spürbar sind - notfalls in barbarischer Konsequenz und Tradition.

Nein zu Euthanasie und Verwertungslogik!
Für ein Leben ohne Angst, verschieden zu sein!
 

Antifa AK an der Uni Heidelberg und Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD), 09.12.2004