Freilassung jetzt!
Gegen die Verfälschung der Geschichte!

Anlässlich des medienträchtig inszenierten 30-jährigen "Jubiläums" dessen, was als deutscher Herbst in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einging, schwappt eine Welle von Geschichtsdeutungen und -verfälschungen durch die Medien, welche die Geschichte des bewaffneten Kampfes im Westeuropa der 1970er und 1980er Jahre als eine Mischung von Räuberpistole und Gruselgeschichte inszeniert. Diejenigen, die sich damals entschieden haben in der "Roten Armee Fraktion" (RAF) oder anderen Stadtguerillagruppen zu kämpfen, werden als "gnadenlose Massenmörder", als "fanatisierte Extremisten" oder schlicht als "Wahnsinnige" bezeichnet, die sich von der gesellschaftlichen Realität völlig losgekoppelt hatten. Gleichzeitig werden die niedrigsten Instinkte des Volkszorns medienträchtig mobilisiert: Bei "Sabine Christiansen" in der ARD z.B. dürfen - aufgeheizt durch eine vor allem aus Angehörigen von Menschen, die von der RAF getötet wurden, bestehende Talkrunde - die ZuschauerInnen darüber abstimmen, wie mit den noch verbliebenen Gefangenen aus der RAF zu verfahren sei. Im Online-Forum des "Spiegel" dürfen sich unter dem Schlagwort "Gnade für die Gnadenlosen" deutsche Lynchmobphantasien Luft machen.
Dürfen - so lautet die Frage, die durch alle Fernsehkanäle und Zeitungen hallt - die Gefangenen nach mehr als 24 Jahren entlassen werden, ohne zuvor öffentlich Reue bekundet zu haben? Das Kriterium der öffentlichen Reueerklärung für eine Haftentlassung gibt es in den Gesetzen nicht, von keinem anderen Straftäter wird derartiges verlangt. Eine "Wiederholungsgefahr" (wie das im juristischen Jargon in Deutschland heißt) existiert zehn Jahre nachdem die RAF ihre Auflösung erklärt hat, offensichtlich nicht mehr. Nicht einmal die Staatsanwaltschaft, der normalerweise kein Vorwand zu billig ist, linkes Engagement zu kriminalisieren, wagt es, derartiges zu behaupten. Worum geht es also eigentlich?

Um die Version von den fanatisierten Irren aus der RAF aufrechterhalten zu können, ist es notwendig, jeden politischen und gesellschaftlichen Kontext auszublenden. Gleichgültig, wie man zur Entscheidung der RAF für den bewaffneten Kampf gestanden hat oder heute dazu steht: Es bleibt festzuhalten, dass diese Entscheidung im Kontext eines weltweiten Aufbruchs der Linken und des Widerstands gegen die imperialistische Kriegspolitik der USA und Westeuropas fiel, die nicht nur in Vietnam tagtäglich Menschenleben forderte. In den ausgebeuteten Ländern des Trikont gab es - ebenso wie in anderen Ländern Westeuropas - bewaffnet kämpfende Befreiungsbewegungen, die von der Linken in der BRD mehr einforderten, als nur Lippenbekenntnisse im Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung. Am 2. Juni 1967 hatte die BRD mit der Erschießung des Demonstranten Benno Ohnesorg gezeigt, dass auch in der Bundesrepublik der Kapitalismus zur Verteidigung seiner Interessen über Leichen ging. Auch wenn wir den Weg, den die RAF gewählt hat, nicht unterstützt haben: Wir werden nicht zulassen, dass der politische Aufbruch, von dem die RAF nur ein Teil war, zugekleistert und verleugnet wird.

Wenn heute von den letzten verbliebenen Gefangenen Reue gefordert wird, offenbart sich damit die tatsächliche Funktion ihrer Inhaftierung: es geht um die Auslöschung linker Geschichte, um die Verleugnung und Verurteilung eines revolutionären Aufbruchs und nicht zuletzt darum, den Willen der Gefangenen zu brechen. Ohne diese Geste der Demut vor dem Staat, der damit seine Überlegenheit beweist, sollen sie den Knast nicht verlassen dürfen. Um nichts geht es bei der Forderung nach "Reuebekenntnissen" weniger als um eine politische Aufarbeitung. Die politischen Fehler der RAF sind unter den ehemaligen Mitgliedern, aber auch in der gesamten Linken ausführlich diskutiert worden (mit wechselndem Niveau). Von den mutmaßlich an der Ermordung Schleyers Beteiligten wird heute eine öffentliche Distanzierung verlangt. Wann hätte es eine solche Distanzierung des ehemaligen SS-Mannes Schleyer für seine Taten als Nationalsozialist gegeben? Wann ist sie jemals von ihm oder seinen politischen UnterstützerInnen eingefordert worden? Hanns Martin Schleyer war während des Nationalsozialismus Leiter des Sicherheitsdienstes der SS an der Universität Heidelberg und als solcher zuständig für die Verfolgung von Nazigegnern, später als SS-Offizier in Polen eingesetzt. Nach ihm werden heute in der BRD Straßen und Plätze benannt.

Aber nicht nur in der abgeschmackten und von kaum verhülltem Voyeurismus getriebenen Forderung nach öffentlicher Reue, die bei keinem anderen Gefangenen erhoben wird, zeigt sich, dass die Gefangenen aus der RAF keineswegs "normale Gefangene wie andere auch" sind.
Von Anfang an wurden sie verschärften, zum Teil buchstäblich zerstörerischen Haftbedingungen unterworfen, es wurden eigens auf sie zugeschnittene Sondergesetze erlassen und die Verteidigungsrechte in geradezu grotesker Weise eingeschränkt. Konkrete Tatnachweise sahen die Gerichte in den meisten Fällen als überflüssig an: Wem Mitgliedschaft in der RAF vorgeworfen wurde, dem wurden regelmäßig alle Aktionen der RAF aus dem fraglichen Zeitraum zugerechnet. Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt sitzen seit 24 Jahren im Knast, Eva Haule seit 20 Jahren, Birgit Hogefeld seit 14 Jahren. Wären sie als SS-Angehörige an Massenerschießungen beteiligt gewesen, sie hätten in der BRD keinen einzigen Tag im Gefängnis verbringen müssen. Bis heute hat die Staatsanwaltschaft beispielsweise keine Anklage gegen die SS-Männer erhoben, die 1944 im italienischen Sant'Anna di Stazzema 560 Frauen, Männer und Kinder niedergemetzelt hatten.

Vor dreißig Jahren wurden im bestbe- und -überwachten Hochsicherheitsgefängnis der BRD drei politische Gefangene tot aufgefunden. Die einzige Überlebende, Irmgard Möller, hat mehrfach klargestellt, dass sie keinen Suizid begehen wollte und dass es auch von Seiten der anderen Gefangenen keine solchen Pläne gab. Bis heute sind wesentliche Teile der Polizei- und Gerichtsakten nicht zugänglich gemacht worden. Dennoch wird auch heute noch mit strafrechtlicher Verfolgung bedroht, wer an der staatsoffiziellen Version des kollektiven Selbstmords zu zweifeln wagt.

Nach 30 Jahren kann unsere Forderung nur heißen:
Freilassung der letzten verbliebenen Gefangenen aus der RAF!
Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Heidelberg, März 2007