Den patriarchalen Kapitalismus angreifen!

In den letzten Jahrzehnten ist das Bewusstsein für die herrschenden patriarchalen Strukturen extrem gesunken – auch in der radikalen Linken. Antisexistische und feministische Ansätze werden oft als „reformistisch“ abqualifiziert und ganz oder zumindest teilweise einem bürgerlichen Bereich überlassen. Gab es in den 1980er Jahren noch ein breites Spektrum an systemantagonistischen Gruppen, die die patriarchale Gesellschaft grundsätzlich in Frage stellten und sich für eine umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen einsetzten, so konnten manche der Forderungen gezielt in das kapitalistische System integriert werden. Die Einführung von zwar machtlosen, aber symbolisch aktiven Institutionen wie Frauenbeauftragten oder Frauenförderprogrammen in bestimmten Wirtschaftsbereichen konnte die reformistische bürgerliche Frauenbewegung stückweise mit der sexistischen Gesamtgesellschaft versöhnen.

In vielen Punkten verbesserte sich die rechtliche Position von Frauen in den letzten Jahrzehnten tatsächlich, zumindest in den spätkapitalistischen, krisengebeutelten Industrienationen wie der BRD: allzu offene gesetzliche Benachteiligungen wurden aufgehoben, einige reine Männerdomänen wurden ansatzweise für Frauen geöffnet. Auch die Lebensalltagssituation hat sich in manchen Punkten verbessert, indem die Bewegungsfreiheit zugenommen und die Auswahl der zur Verfügung stehenden Rollenmuster sich erweitert hat.
Tatsächlich mag es also gesamtgesellschaftlich spürbare emanzipatorische Bestrebungen gegeben haben, die Frauen auf einmal in die Lage versetzten, Subjektstatus („Wir“ Frauen) zu erreichen. Letzten Endes ist so das patriarchale Herrschaftssystem jedoch nur verschleiert, also beileibe nicht in eine wahrhaft freie Gesellschaft frei Assoziierter transformiert worden.

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Gegen das patriarchale Konstrukt des bürgerlichen Subjekts
Dieser Transformationsakt ginge auch gar nicht so einfach, bildet doch das bürgerliche, also „männliche“ Subjekt quasi jene Form, in der sich das Naturbeherrschungsverhältnis der Moderne im Allgemeinen ausdrückt. Dieses Subjekt, das sich die Außenwelt, zu der auch die „Frau“ gehört, Untertan macht, wurde ohne den revolutionären Akt der „freien Aufhebung“ nur in die als „Frau“ kategorisierte Entität „hineinverlegt“. Tatsächlich müsste es vollständig abgeschafft werden, um die Beherrschung der „inneren Natur“ nicht mehr zu einer Voraussetzung für die Herrschaft über die „äußere“ machen lassen zu können, die - als siegreiche Gesamtheit konstruiert - aus dem Subjekt ein scheinbar identisches macht: Ein Subjekt, das als Warensubjekt entsprechend den Anforderungen der kapitalistischen Warenproduktion diszipliniert sein und disziplinieren muss, und als männliches Subjekt im modernen Patriarchat auf dieser Abspaltung konstituiert werden muss.
 

Die Erfindung der „Natur“
Konkret bedeutet dies, dass bei dieser nach Identität trachtenden Subjekt-Bildung in der Moderne alle unbewussten Momente, die das „Ich“ gefährden könnten, weil sie nicht unter Kontrolle gebracht werden können, verdrängt werden müssen. Erst in diesem Sinne entsteht so etwas wie die „Natur“, denn der Begriff der „Kultur“, in der sich all das soeben Beschriebene abspielt, verschiebt alles, was darin nicht aufgehen kann, in die „Natur“. Die „Natur“ wird zur Projektionsfläche dessen, was im Unbewussten sein Dasein fristet, also begrifflich nicht fassbar ist. Teile der Identität, die nicht zu ihr gehören dürfen, erscheinen dann beispielsweise als „natürliche“ Triebe, als nicht zum Ich gehörende innere Gefahren, die das eventuell „schwach“ werdende Subjekt zu „verweiblichen“ drohen.
Auflösung findet der so erzeugte permanente innere Widerspruch in mit mehreren Implikationen gefütterten Projektionsleistungen: Im patriarchalen Kapitalismus sind das dann etwa Emotionalität, Naturhaftigkeit, Passivität, Gewaltlosigkeit, die als „Weiblichkeit“ widerscheinen. Übertragen auf die eng mit der Männerherrschaft verwobene Identitätslogik der Moderne bedeutet dies für die Zweigeschlechtlichkeit, dass sie immer hierarchisiert, also patriarchal ist. „Das Abgespaltene ist immer das Inferiore, das beherrscht werden muss: Die Frau vom Mann, die Triebe vom Ich, die ‚Natur’ vom Subjekt etc. So gesehen ist die Aufhebung dieses Naturbeherrschungsverhältnisses auch notwendig für die Aufhebung des Kapitalismus und des Patriarchats.“ (redfag im worldwideweb am 24.11.2007)
Wenn also selbst von linken TheoretikerInnen versucht wird, an Marx angelehnte Kapitalismuskritik als eine „aus dem Wert entfaltete“ Totalität darzustellen, dann gehen sie die Gefahr ein, einer Modernisierungsbewegung des Patriarchats Vorschub zu leisten, indem sie eine herrschaftskritische Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen bewusst ausklammern. Tatsächlich müsste der Kapitalismus als ein zwar zum Totalen strebendes System betrachtet werden, das diese „geschlossene Ganzheit“ aber nicht erreichen kann, weil darin der Real-Begriff vom Wert auch notwendigerweise sein dialektisches Gegenstück in der privaten, „weiblich“ konnotierten Reproduktion hervorbringt und damit zum Abspaltungsprodukt der scheinbaren Identität wird. Stattdessen bleibt das gesellschaftlich Unbewusste auch in vielen linken Analysen „naturhaft“.
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Neue Geschlechtermodelle eines umstrukturierten Patriarchats
Die Veränderung der patriarchalen Geschlechtermodelle in den vergangenen Jahrzehnten hat bei vielen Menschen den Eindruck hinterlassen, dass Sexismus inzwischen weniger virulent sei. Tatsächlich haben die Zwänge nur ihr Gesicht verändert und sich den veränderten gesellschaftlichen Umständen angepasst. Im Mittelpunkt des nun propagierten Frauenbilds steht nicht länger das Ideal der bloßen Hausfrau und Mutter, sondern eine Mischung verschiedener Ansprüche, deren Schwerpunktsetzung nur teilweise selbst bestimmt werden kann. Beruflicher Erfolg, dauerhafte jugendliche Schönheit und die traditionellen Rollen der liebenden Mutter und der für die Beziehungsarbeit zuständigen Partnerin sollen miteinander kombiniert werden, was für die betroffenen Frauen eine enorme Mehrfachbelastung darstellt. Obwohl eine Kombination all dieser Aufgaben an sich unmöglich ist, ohne zur reinen Arbeitsmaschine zu werden, sind bestimmte an sich selbstverständliche Arbeitserleichterungen noch immer nicht anerkannt: die frühzeitige Organisierung eines Krippenplatzes für Kleinkinder wird oftmals als Zeichen einer „Rabenmutter“ stigmatisiert, die Durchsetzung einer Arbeitsteilung im Haushalt wird einer Schwäche des Mannes oder einer Unfähigkeit der Frau zugeschrieben.
 

Benachteiligung von Frauen im Alltag
Auch wenn die gesellschaftlichen Vorschriften der sexuellen Enthaltsamkeit vor der Ehe und der lebenslänglichen Treue zu einem Partner längst abgeschafft wurden, sind die dahinter stehenden Ideologien weiterhin im Bewusstsein verankert und werden durch neue Zwänge ergänzt: obwohl die Fixiertheit auf dauerhafte Zweierbeziehungen etwas nachgelassen hat, müssen Frauen bei häufigem Partnerwechsel mit abwertenden Sprüchen, offenen Beleidigungen oder sogar sexuellen Übergriffen durch abgewiesene Männer rechnen - im Gegensatz zu ihren anerkannten männlichen Partnern, die sich als „Schürzenjäger“ eben mal „die Hörner abstoßen“ müssen.
Sexistische Anmache und sexuelle Übergriffe gehören weiterhin zum Alltag und werden vom sozialen Umfeld oftmals geduldet, durch Ungläubigkeit abgetan oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt. Tatsächlich werden 34 Prozent der Frauen in der BRD Opfer von sexueller Gewalt und Übergriffen, über 20 Prozent bereits im Kindesalter. Die noch immer bestehende Tabuisierung der Vorfälle durch das soziale Umfeld und die fehlenden Möglichkeiten, Sanktionen im Alltag oder vor Gericht umzusetzen, lassen die Betroffenen die Gewalt in zweifacher Weise erfahren.
Daneben kommt dem täglichen Schönheitsterror, unter dem Frauen in weit stärkerem Maße leiden als Männer, eine besondere Bedeutung zu: der gesellschaftliche Zwang, den propagierten Idealen zu entsprechen, führen bei vielen Frauen zu dauerhafter Selbstkasteiung und körperlicher Selbstschädigung durch Diäten, „Schönheits“-Operationen und Essstörungen. Insbesondere junge Frauen leiden unter Depressionen und Selbsthass bis hin zur Selbstverstümmelung angesichts ihrer Erfolglosigkeit, dem Magersuchtsideal zu entsprechen.
Ein unübersehbares Beispiel bietet auch die wirtschaftliche Situation, die Frauen nur geringe Aufstiegschancen und niedrige Löhne bietet. Während sie in Schulen und Universitäten im Schnitt bessere Abschlüsse erzielen als Männer, ist die Wahrscheinlichkeit, im Anschluss einen gut bezahlten Job zu bekommen, weitaus geringer. Auch jenseits bestimmter Männerdomänen, in denen Frauen ohnehin kaum Einstellungschancen haben, sind die gut bezahlten Spitzenpositionen für Männer reserviert, während die weibliche Karriereleiter im Mittelfeld endet. Klassische „Frauenberufe“, z. B. im sozialen und erzieherischen Bereich, sind so schlecht bezahlt, dass sie eher als Zuverdienst zu werten sind und nicht zulassen, nichtverdienende Angehörige wie z. B. Kinder mitzuversorgen. Die inzwischen wieder gewachsene gesellschaftliche Erwartung der Mutterrolle verstärkt auch den ökonomischen Druck, da mögliche Schwangerschaften als Störungen der Betriebsabläufe wahrgenommen werden und Männer auch aus diesem Grund bei der Einstellung und Beförderung bevorzugt werden. Gleichzeitig stellen Kinder ein zusätzliches Armutsrisiko dar, das wieder hauptsächlich auf Frauen lastet, insbesondere auf allein erziehenden Müttern.
 

Die Situation von Frauen mit Migrationshintergrund
In ganz besonderer Weise sind Frauen mit Migrationshintergrund sexistischer Diskriminierung ausgesetzt, die noch durch rassistische Vorurteile ergänzt wird. Die üblichen Benachteiligungen im Alltag sind für sie noch deutlicher spürbar, was sich in verschlechterten Bildungsmöglichkeiten, einer minimalen Auswahl von (meist schlecht bezahlten) Jobs und verächtlich pauschalisierenden Bemerkungen äußert. Ein oftmals konservatives und offen patriarchales soziales Umfeld verringern ihre Chancen, sich selbstbewusst gegen diese Zwänge zu positionieren und eigene Wege zu beschreiten. Auch staatlicherseits sehen sich Migrantinnen besonders benachteiligt, indem beispielsweise geschlechtsspezifische Fluchtgründe nicht anerkannt werden und ihre Aufenthaltsgenehmigung in vielen Fällen an den Ehemann gekoppelt ist.
 

Neue Rollen - neue Zwänge
In allen Bereichen des Alltags erfahren Frauen weiterhin strukturelle Benachteiligung und massive Diskriminierung bis hin zu gewaltförmigen Übergriffen. Auch wenn manche Rollenbilder teilreformiert und Unterdrückungsmechanismen modernisiert wurden, ist es unübersehbar, dass der patriarchale Backlash wieder auf dem Vormarsch ist.
Dass es in vielen Bereichen strukturelle Veränderungen gegeben hat, die Frauen neue Möglichkeiten eröffnen (und sie zugleich neuen Zwängen aussetzen), hängt also keineswegs mit einem plötzlichen Umschwung des gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins zusammen. Vielmehr liegt dem die Anpassungsfähigkeit des Systems zugrunde, das auf die neuen ökonomischen Anforderungen von erhöhter Flexibilität und optimaler Verwertung reagieren muss und folglich auch Frauen - je nach aktueller Wirtschaftslage - neue Rollenbilder zugesteht oder vorschreibt. Dabei werden Forderungen der feministischen Bewegung geschickt aufgegriffen, in die Systemabläufe integriert und letztlich gegen die Frauen selbst gewandt. Der Kampf für wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten mündet so in die berüchtigte Doppelbelastung durch Haushalt und Beruf - die Ausbeutung wird also nur optimiert. In Zeiten von Krise und steigender Arbeitslosigkeit verstärkt sich hingegen erneut der Druck auf die weibliche Bevölkerung.
 

Kampf dem Patriarchat!
Deshalb ist es wichtiger denn je, darauf hinzuweisen, dass der patriarchale Grundkonsens im bürgerlichen Kapitalismus ungebrochen ist. Diese Strukturen müssen auf allen Ebenen angegangen werden - in der Theorie- und Ideologiebildung ebenso wie im Alltag. Ausgangspunkt für einen erfolgreichen Kampf gegen patriarchale, frauenfeindliche, heterosexistische Ideologeme und Praktiken ist die Schaffung eines breiten Bewusstseins für die herrschenden Geschlechterverhältnisse und die Wiederaneignung feministischer Grundlagen. Gleichzeitig muss der antipatriarchale Kampf im Alltag geführt werden – durch aktive Praxis und solidarische Aktionen.
 

Antifaschistische Initiative Heidelberg im März 2010