Fang den Hut
Zusammen kämpfen - zusammen feiern!

Maiansingen der Burschenschaften in Heidelberg
Seit weit über 100 Jahren wird der 1. Mai als historischer ArbeiterInnenkampftag weltweit genutzt, um emanzipatorische, linke Bestrebungen und die Forderung nach revolutionären Umgestaltungen unterdrückerischer und ausbeuterischer Kapitalverwertungsgesellschaften auf die Straße zu tragen.
Doch gerade hier in Heidelberg wurde der Vorabend des 1. Mai traditionell von rechten Burschenschaften missbraucht, die ihre reaktionäre Weltanschauung mit dem so genannten Maiansingen öffentlich zelebrierten. Dabei zogen die Burschen in Couleur mit Fackeln und Degen durch die Heidelberger Innenstadt, um gegen Mitternacht auf dem Marktplatz den Mai mit allerlei „volkstümlichem“ Liedgut zu begrüßen - wobei auch gern das „Deutschlandlied“ in allen drei Strophen geschmettert wurde.
Pöbeleien, Angriffe auf Andersdenkende und rassistische Übergriffe gehörten ebenso zu diesem Abend wie Unterstützung aus der organisierten Neonazi-Szene, mit der zahlreiche Burschenschaften - allen voran die „Normannia“ - enge Kontakte pflegen.

Burschenschaften abschaffen!
Doch nicht nur diese Verstrickungen mit faschistischen Organisationen machen die Existenz und die Umtriebe der Korporationen bekämpfenswert: Erklärtes Ziel der Burschenschaften ist die Aufrechterhaltung einer nationalistischen, bürgerlich-kapitalistischen Elite auf wirtschaftlicher, militärischer, parteilicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene, wobei der Zugang zu diesen Schlüsselpositionen durch die Mitgliedschaft in einer Verbindung ermöglicht wird.
Die Ideologie ist geprägt von Nationalchauvinismus, zahlreichen militaristischen Elementen und einem offen zur Schau getragenen patriarchalen Grundkonsens, der Frauen eine passive Rolle als schmückende Stütze des Mannes zuschreibt. Dieses Weltbild schließt einen weiten Personenkreis aus, indem in aller Regel Frauen, „Nicht-Deutschen“ und Kriegsdienstverweigerern der Zutritt zu den Korporationen ebenso verwehrt bleibt wie jenen Menschen, die ihren völkischen Nationalismus nicht teilen. Eine hierarchisch-autoritär aufgebaute Binnenstruktur, Uniformen und so genannte Mensuren (gemeint sind damit Fechtkämpfe mit scharfen Waffen) zählen hingegen zum Standard zahlreicher Verbindungen. Nach außen geben sich die Korporationen gerne „unpolitisch“ oder schmücken sich mit dem Mythos „freiheitlicher“, „demokratischer“ Ideale. Dieser beruht auf der offensichtlichen Verdrehung historischer Tatsachen und verkennt nationalistische Kontinuitäten der Verbindungen, die seit der Deklaration einer absoluten Kaisertreue durch Burschenschaften ab 1871 bestehen und auch über die NS-Zeit hinweg bis heute keine Brüche aufweisen.

Antifaschistischer Widerstand
Gegen die Darstellung dieser nationalistischen und frauenfeindlichen Ideologie in Form des Maiansingens, die in der Nacht zum 1. Mai die Heidelberger Altstadt prägte, regte sich ein seit den 1980er Jahren permanent breiter und entschlossener werdender antifaschistischer Widerstand, so dass der Fackelmarsch nur noch unter erheblichem Polizeischutz möglich war und schließlich aus der Innenstadt verlagert werden musste.
1997 gelang es erstmals, das reaktionäre Burschentreiben zu verhindern, als sich nach einer Demonstration des Antifa AK an der Uni und der Autonomen Antifa Heidelberg etwa 1000 AntifaschistInnen auf dem Marktplatz versammelten. Die Verbindungen ließen sich – wie bereits vorher angekündigt – nicht blicken; die ultrarechte „Normannia“ ließ es sich allerdings nicht nehmen, auf den Schlossterrassen einen Fackelzug mit etwa 60 Teilnehmern durchzuführen.

Der 30.04. als antifaschistischer Aktionstag
Seither ist es immer wieder gelungen, nicht nur die reaktionäre Tradition der Burschenschaften zu brechen, sondern auch den dadurch frei werdenden öffentlichen Raum mit linken Inhalten zu besetzen, wie die gut besuchten antifaschistischen Straßenfeste der letzten Jahre zeigen. Antifaschistisch aktiv zu sein heißt dabei für uns nicht nur, gegen FaschistInnen auf die Straße zu gehen, sondern auch, eine radikale Gesellschaftskritik zu entwickeln und die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
An die Erfolge der letzten Jahre wollen wir weiter anknüpfen und auch in Zukunft an diesem Abend einen antifaschistischen Aktionstag unter wechselnden Mottos durchführen. Dabei gilt weiterhin, in dieser Nacht in der Altstadt präsent zu sein, die Umtriebe der Burschen zu verhindern und deutlich zu machen, dass Korporationen abgeschafft werden müssen. Zudem wollen wir den diesjährigen 30. April dazu nutzen, um im Rahmen unserer Kampagne gegen „innere Sicherheit“ die planmäßige Übereinkunft zwischen bürgerlicher Überwachungsgesellschaft und autoritärem Sicherheitsstaat zu thematisieren, ihre Schwachstellen und damit Ansatzpunkte für revolutionäre Perspektiven aufzuzeigen.
 

Hintergründe der „inneren Sicherheit“
In den letzten fünf Jahren hat der Begriff „innere Sicherheit“ eine ungeahnte Karriere erfahren. Die tatsächlichen Unsicherheitsfaktoren können in der „marktwirtschaftlichen Ordnung“ nicht beseitigt werden: die versprochene ewige Konjunktursteigerung bleibt aus, die Arbeitslosenzahlen steigen weiter, und mit der friedlichen Weltordnung nach dem Zusammenbruch der Blockkonfrontation ist es auch nichts geworden. Stattdessen werden immer neue Bedrohungsszenarien konstruiert, deren rigide Bekämpfung der deutschen Durchschnittsbevölkerung ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, wobei die neu entwickelten Repressionsmöglichkeiten faktisch eine Notstandsgesetzgebung ohne Notstand darstellen.
Hinter dieser Entwicklung hin zu einem Polizeistaat und einer Überwachungsgesellschaft steht ein System, das Menschen nicht anders kategorisieren kann als nach ihrer Verwertbarkeit und das gegen all jene vorgeht, die aus der kapitalistischen Verwertungslogik herausfallen oder sich ihr bewusst widersetzen.

Rassistische Repressionen gegen Flüchtlinge
Dazu gehören die als unerwünscht eingestuften AusländerInnen - also alle Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen bis auf die händeringend gesuchten IT-SpezialistInnen -, die zu einer Gefahr für eine konstruierte „deutsche Leitkultur“ in Form einer immer wieder beschworenen „Überfremdung“ erklärt werden.
Mit der zunehmenden Salonfähigkeit halluzinierter Bedrohung durch MigrantInnen auch außerhalb von Rechtsaußen geht der Ausbau der „Festung Europa“ einher, bei der zwischen „guten“ EU-BürgerInnen und „schlechten“ Nicht-EU-AusländerInnen unterschieden wird. Deutlich wird dies besonders am dabei maßgeblichen Schengener Abkommen, das einerseits eine stärkere Öffnung der „Intra-Schengen-Grenzen“ für EU-BürgerInnen beinhaltet, andererseits aber die Kontrolle der Außengrenzen verschärft und staatenübergreifend vernetzt.
Zusätzlich zu den offiziellen Staatsgrenzen gibt es aufgrund der Residenzpflicht für Flüchtlinge weitere Grenzen, die ihre Bewegungsfreiheit auf den jeweiligen Landkreis beschränken. Zusammen mit anderen repressiven Maßnahmen (wie der Unterbringung in Sammelunterkünften oder striktem Arbeitsverbot) soll den Flüchtlingen innerhalb der EU-Staaten der Alltag unerträglich gemacht und weitere potenzielle AsylbewerberInnen abgeschreckt werden. Ergänzt wird dies durch die ständige Bedrohung mit Abschiebung, die die „präventive Verbringung“ in Abschiebeknäste beinhaltet, in denen die Betroffenen oft über viele Monate hinweg unter katastrophalen Bedingungen festgehalten werden.

Das Feindbild des „ausländischen Extremisten“
Doch auch die AusländerInnen mit gesichertem Aufenthaltsstatus werden zur Bedrohung konstruiert: nicht erst seit dem 11. September 2001 wird der Begriff „Ausländer“ fast schon als Synonym für „Sicherheitsrisiko“ verwendet. Mithilfe des Feindbildes des „extremistischen Terrorismus“ wurde eine Reihe von Gesetzen durchgepeitscht, deren neue Repressionsmöglichkeiten, wie z.B. die auch an der Heidelberger Universität praktizierte Rasterfahndung, alles übertreffen, was eine CDU-Regierung an restriktiver AusländerInnenpolitik je zu träumen wagte.
Die imaginierte Bedrohung durch den „islamistischen Terror“ fügt sich nahtlos in die Reihe bewährter wahlkampftauglicher Konstruktionen wie der „organisierten Kriminalität“, die in der Öffentlichkeit eigentlich nur als „Ausländerkriminalität“ denkbar ist, wodurch alle als nicht-deutsch Wahrgenommenen automatisch zu Verdächtigen werden.

Säuberung der Innenstädte
Doch auch andere Personengruppen stellen angeblich eine Bedrohung dar - insbesondere für die ungehinderte Konsumfreude der EinkäuferInnen in den Innenstädten. Schenkt man den ProtagonistInnen der „Inneren Sicherheit“ Glauben, so bevölkern ganze Heerscharen von Obdachlosen und aggressiven BettlerInnen die FußgängerInnenzonen, pöbelnde Punks und rücksichtslose SkaterInnen machen den Einkaufsbummel zur gefährlichen Großstadtsafari. Fast alle Gemeinden haben in den letzten Jahren eigene Konzepte „für eine saubere Innenstadt“ entwickelt - z. B. Heidelberg seit 1998 mit der Kampagne „Gegen Schmutz und Schmiererei“ - und ihre Polizeiverordnungen durch verschärfte Versionen ersetzt, die auch die geringste Abweichung von der Norm mit massiven Strafen belegen. So meint etwa die Stadt Heidelberg, das „Angeln in öffentlichen Brunnen“ oder das „Entfernen von Laub aus öffentlichen Anlagen“ mit hohen Bußgeldern ahnden zu müssen.

Systematische Verdrängung alternativer Konzepte
Zusätzlich sollen Menschen oder linke Treffpunkte, die nicht über die entsprechende Kaufkraft verfügen oder als „stadtbildbeschmutzende Schandflecke“ marginalisiert werden, konsequent vertrieben werden. Beispielhaft für die Verdrängung alternativer Konzepte aus dem Innenstadtbereich ist die Räumung des Heidelberger Autonomen Zentrums am 01.02.1999, das als relativ zentral gelegener Treffpunkt für unabhängige Kultur und link(sradikal)e Politik den städtischen „Saubermännern und -frauen“ in seiner achtjährigen Existenz immer ein Dorn im Auge war. Dementsprechend interessiert sich die Stadtverwaltung auch nicht mehr für ihre früheren Versprechen, für gleichwertigen Ersatz zu sorgen, und blockt sämtliche Versuche seitens des AZ (im Exil), wieder in Verhandlungen zu treten, ab.

Überwachung und Privatisierung des öffentlichen Raums
Parallel zur Vertreibung unliebsamer Personengruppen wird - wie z.B. in Mannheim - die Überwachung des öffentlichen Raumes mithilfe von Kameras immer mehr vorangetrieben, um das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu steigern. Hierbei ist zu beachten, dass dies keineswegs einen Rückgang der Kriminalität mit sich bringt, sondern - wenn überhaupt - eine Verlagerung (schließlich werden auch trotz massiver Videoüberwachung weiterhin Banken überfallen).
In einigen Bereichen ist die angestrebte totale Überwachung in Verbindung mit der Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raumes bereits Realität geworden. Musterbeispiel sind die überall neu entstehenden Einkaufszentren und -passagen, die mit ihren privaten Sicherheitsdiensten alles und jeden entfernen, der oder die nicht in ihr Verwertungsinteresse passt.

Selbstüberwachung der Bevölkerung
Diese Überwachungsmaßnahmen stoßen bei der deutschen Normalbevölkerung nicht auf den geringsten Widerstand; vielmehr sind die im Verlauf des Sicherheitsdiskurses laut gewordenen Forderungen von den einzelnen BürgerInnen so verinnerlicht worden, dass sie diese selbstständig in ihrem direkten Wohnumfeld umsetzen.
Neue Bedrohungsszenarien wie „organisiertes Betteln“, angeblich zunehmender Einbruchdiebstahl und immer dreister werdende TrickbetrügerInnen werden von den Medien gezielt verbreitet („Vorsicht Falle“, „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“), wodurch das Misstrauen gegenüber allen fremden oder auffälligen Personen im Wohngebiet verstärkt wird.
Das daraus folgende diffuse „Sicherheitsbedürfnis“, das nicht mehr allein durch die üblichen Polizeimaßnahmen befriedigt werden kann, zieht eine Verstärkung der privaten Kontrolleinrichtungen - etwa in Form von Alarmanlagen und Bewegungsmeldern - nach sich und führt im Extremfall zur Gründung von Bürgerwehren, um die imaginären Gefahren zu bekämpfen. Nichtsdestotrotz wird auch die Zusammenarbeit mit den Behörden von selbst ernannten AktivbürgerInnen weiter ausgebaut, die durch „Neighbourhood Watch“ und die Weitergabe beobachteter Rechtsverstöße an die Polizei den Weg in die totale Überwachungsgesellschaft freiwillig ebnen. Diese Tendenz zum DenunziantInnentum soll durch Fernsehserien wie „Aktenzeichen XY ungelöst“ unterstützt und in der breiten Bevölkerung verankert werden.
Dadurch wird zusätzlich zu den staatlichen Instrumentarien ein bürgerliches Spitzelsystem geschaffen, dessen Mitglieder sich mit der Idee der „inneren Sicherheit“ identifizieren in der Überzeugung, von dieser zu profitieren.

Für den Aufbau einer antikapitalistischen Perspektive!
Letztlich hat diese Entwicklung hin zu Polizeistaat und Überwachungsgesellschaft das Ziel, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft von innen zusammenzuhalten, deren Krisen mit Vorliebe mithilfe von bewährten Bedrohungsszenarien aus der propagandistischen Mottenkiste bekämpft werden. Anhand der angeblich drohenden Gefahren im Inneren werden gezielt Ängste geschürt, durch die verschiedene Bevölkerungsgruppen geschickt gegeneinander ausgespielt werden mit dem positiven Nebeneffekt, dass auch dem letzten Sozialhilfeempfänger das Gefühl vermittelt wird, in der Hierarchie noch über anderen zu stehen. Parallel zu diesem im bürgerlichen Alltag umgesetzten Überlegenheitsgefühl wird auch der Nationalchauvinismus auf staatlicher Ebene immer offener zur Schau getragen, was sich nicht zuletzt in Kriegseinsätzen äußert, die mit einer angeblich gewachsenen Verantwortung Deutschlands begründet werden. Indem anhand wilder Verschwörungstheorien eine vermeintliche Bedrohung von außen konstruiert wird, kommt es zu einer Stärkung des Wir-Gefühls innerhalb der Bevölkerung, durch die die Unmöglichkeit der systemimmanenten Bewältigung der Wirtschaftskrisen kaschiert wird.
Gerade diese Notwendigkeit der staatlichen Ablenkungsmanöver zeigt die Gefahr, die dem kapitalistischen System durch die ihm innewohnende Krisenanfälligkeit droht. Die herrschende Wirtschaftsordnung ist nicht so unverwundbar und alternativlos, wie ihre ProtagonistInnen uns das glauben machen wollen: Aufgabe der radikalen Linken muss daher bleiben, die Krisen, die den Kapitalismus von innen bröckeln lassen, zum Aufbau einer antikapitalistischen Perspektive zu nutzen. Dass eine derartige Krise durchaus eintreten kann, hat sich in jüngster Zeit am Beispiel Argentiniens gezeigt, wo an Stelle eines Runs zur Rettung der eigenen Ersparnisse auch ein Aufstand mit revolutionärer Ausrichtung denkbar gewesen wäre.

April 2002