Redebeitrag der AIHD auf der Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus
am 1. November 2002

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
wenn wir uns jedes Jahr hier am Grab der von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer treffen, dann gehen unsere Gedanken zunächst zurück in die Zeit, in der der deutsche Faschismus an der Macht war. Das ist gut und richtig so und dieses Erinnern hat an sich schon eine höchst aktuelle und politische Funktion in einer Zeit und in einem Land, in dem immer weniger Menschen sich erinnern wollen und in dem führende Politiker die Erinnerung an Auschwitz als zynische Legitimation für deutsche Angriffskriege missbrauchen. In seinem letzten Brief aus dem Gefängnis, kurz vor seiner Hinrichtung, schrieb Albert Fritz: "Oft hast Du mir von Schicksal geschrieben. Ich möchte Dich aber doch bitten, von der schicksalhaften Betrachtung abzukommen, Schicksal ist etwas Unabwendbares. Unser Los aber ist von Menschen bestimmt." (nun folgt ein Satz, der von der Gestapozensur gestrichen wurde).
Wir wollen bei unserem Gedenken nicht vergessen, dass es Menschen waren und sind, die die Geschichte bestimmen. Und wir werden nicht zulassen, dass Täter und Opfer in einen Topf geworfen werden, wie das alljährlich bei einer sehr anderen Gedenkveranstaltung geschieht. Auch in zwei Wochen werden wieder städtische Honoratioren aller Parteien, Militärs und neofaschistische Burschenschafter gemeinsam an der Nazigedenkstätte des sogenannten Ehrenfriedhofs Kränze niederlegen. Und sie werden nichts Anstößiges daran finden, ist doch der Gedenkstein für die gefallenen deutschen Helden mit der Aufschrift versehen worden: 'Den Opfern von Krieg und Gewalt'. Wir hingegen bestehen auch weiterhin auf der Unterscheidung von Tätern und Opfern. Unsere ermordeten GenossInnen hatten Ziele für die sie bereit waren, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Und jedes Jahr ist die Gedenkfeier auf dem Bergfriedhof für uns Anlass, Rechenschaft abzulegen: Was ist aus ihren Zielen geworden fast sechzig Jahre nach dem Sieg über den deutschen Faschismus? Was ist aus diesem Land geworden, was haben wir aus diesem Land werden lassen?
Die hier beigesetzten Herausgeberinnen und Herausgeber des 'Vorboten' kämpften gegen die deutsche Kriegspolitik. Heute haben wir uns schon fast an unverhohlene deutsche Großmachtambitionen und den Einsatz deutscher Soldaten in aller Welt gewöhnt.
Hier liegen Menschen begraben, die gegen Rassismus und Antisemitismus kämpften. In den letzten vier Jahren hat sich die Zahl der Deutschen, die antisemitischen Aussagen zustimmten, verdoppelt und liegt nun bei etwa 30%. Ein Herr Möllemann lässt sich von finanzkräftigen Spendern seinen antisemitischen Wahlkampf sponsorn und erzielt damit in seinem Wahlkreis Rekordergebnisse.
Heinrich Fehrentz wurde von den Nazis zum Tode verurteilt, weil er beim Abhören sogenannter 'Feindsender' die Internationale mitsummte. Heute gehört es fast schon zum guten Ton, Kommunistinnen und Kommunisten mit Nazis auf eine Stufe zu stellen und in einem Atemzug von "Links- und Rechtsextremen" zu sprechen. Kaum jemand, der dieser nachträglichen Verhöhnung von radikalen AntifaschistInnen noch laut widerspricht.
Um nicht missverstanden zu werden: Die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse sind in keiner Weise gleichzusetzen mit der Zeit der Nazi-Barbarei. Aber wenn wir uns messen am Schwur der Häftlinge von Buchenwald, die die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln forderten, dann müssen wir beschämt unser Scheitern eingestehen. Die alltägliche kapitalistische Barbarei, in der der Mensch nichts als eine Ware ist, dauert an und mit ihr Krieg, Rassismus und Antisemitismus.
Dafür, dass Kampf gegen die Wurzeln des Faschismus nach 1945 nicht vorbei war, stand auch eine Genossin, die noch im letzten Jahr mit uns an dieser Gedenkfeier teilgenommen hat und die wir am 18. März dieses Jahres zu Grabe getragen haben. Sophie Berlinghof  kannte Partei- und Berufsverbote, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen nicht nur aus der Zeit des Nazifaschismus, sondern auch aus dem Nachfolgestaat des 'Dritten Reiches'. Sie starb als ungebrochene Kommunistin und Antifaschistin. Auch sie wird Teil unseres Gedenkens sein, wenn wir uns in den kommenden Jahren zur Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand auf dem Bergfriedhof versammeln.

Nichts ist vergessen und niemand!