Rede von Michael Csaszkóczy (AIHD) auf der Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus
am 1. November 2007 auf dem Heidelberger Bergfriedhof

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Genossinnen und Genossen,

ich bin sehr dankbar für die Einladung, hier auf dem Bergfriedhof bei der Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus zu reden. Diese alljährliche Gedenkstunde hat mich durch mein gesamtes politisches Leben begleitet. Sie war für uns junge Antifaschistinnen und Antifaschisten damals vor allem auch ein Ort der Begegnung mit ZeitzeugInnen, die die Verfolgung durch die Nazis überlebt hatten und die im Widerstand aktiv waren. Hier am Bergfriedhof standen wir gemeinsam mit Menschen wie Max Oppenheimer, Sophie Berlinghof und mit Resistance-Kämpfern aus dem Elsass. Hier wurde für uns greifbar, dass wir mit unserem Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Intoleranz und Krieg in einer Tradition standen.

Zugleich hat mich aber ein ungutes Gefühl beschlichen, als Dieter Fehrentz mich bat, in diesem Jahr auf dem Bergfriedhof zu sprechen. Ich war mir durchaus nicht sicher, ob das, was ich zu sagen habe von besonderem Interesse ist. Ich bin in den letzten Jahres durch das gegen mich verhängte Berufsverbot ohne, dass ich es gewollt hätte, zu einer Person des öffentlichen Lebens geworden. Es war eine Rolle, der ich mich eigentlich nicht gewachsen fühlte, und die ich nicht selbst gewählt habe. Dennoch habe ich versucht, sie so gut wie ich es konnte auszufüllen. Dass ich das nötig fand, hat sehr viel mit der Erinnerung an die Menschen zu tun, die hier begraben liegen und die für ihre Überzeugungen unvergleichbar Schrecklicheres auf sich nehmen und ertragen mussten, als die Unannehmlichkeiten, die auch heute noch jeden erwarten, der sich gegen das Wiedererstarken des Faschismus zur Wehr setzt. In einem Bühnenprogramm, das Hüsch, Süverkrüp, Neuss und Degenhardt in den frühen 1970er Jahren zusammengestellt haben, sprach Hanns Dieter Hüsch einen sehr leisen und nachdenklichen Satz, der sich mir besonders eingeprägt hat. Er lautete: „Es gibt noch ein par Tote, die uns beim Wort genommen haben“.
Dieses Im-Wort-Stehen, das Aufgreifen der Verpflichtung durch die Menschen des Widerstands und durch die Überlebenden des Naziterrors, das ist mehr als eine sentimentale nostalgische Angelegenheit.

Und vielleicht ist es deshalb doch nicht so verkehrt, dass ich heute hier spreche. Nicht, weil ich so kluge oder schöne Dinge zu sagen wüsste, sondern weil das gegen mich verhängte Berufsverbot sehr viel mit der Aktualität des Gedenkens zu tun hatte. Ich habe in den vergangenen Jahren erfahren, wie brisant und aktuell die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschheit in diesem Lande noch immer ist. So wurde in Anhörungen vor dem Regierungspräsidium Karlsruhe von mir verlangt, ich solle mich von der Aussage distanzieren, Militanz sei in Geschichte und Gegenwart ein legitimes Mittel im Kampf um Befreiung. Eine solche Distanzierung habe ich abgelehnt, auch weil sie mir als ungeheuerliche Verhöhnung der Menschen erschienen wäre, die gegen den Faschismus Widerstand geleistet haben. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe erklärte in seinem Urteil, die Feststellung, dass es zwischen Nationalsozialismus und BRD Kontinuitäten gegeben habe, mache mich ungeeignet für den Lehrerberuf. Eine solche Aussage, so das Gericht, sei für einen Angestellten des Landes nicht statthaft. Nur wenig später erklärte der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger seinen Amtsvorgänger, den fürchterlichen NS-Juristen Filbinger zu einem Gegner des Naziregimes. Unter massivem öffentlichem Druck distanzierte Oettinger sich schließlich noch von seiner Aussage, ohne allerdings weitere Konsequenzen zu ziehen und ohne der Öffentlichkeit zu erklären, wie es zu solchen unglaublichen öffentlichen Geschichtsverdrehungen kommen konnte.

Das Erinnern an die Opfer der Nationalsozialisten, aber auch das Erinnern an die Menschen, die es in der Zeit der Naziherrschaft gewagt haben, Widerstand zu leisten, war in Deutschland noch nie eine einfache Angelegenheit und ist es bis heute nicht.
In den frühen Jahren der BRD existierte für die offizielle Politik und die Medienöffentlichkeit als Bild des Widerstands nahezu ausschließlich der missglückte Putsch der Militärs vom 20. Juli, ohne freilich zu erwähnen, dass es unter ihnen einige gab, die selbst begeisterte Anhänger des Naziregimes und am Völkermord an Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma beteiligt gewesen waren,  und die auch am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg in erster Linie störte, dass er nicht mehr zu gewinnen war. Die Gedenkfeiern, die die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes veranstaltete, wurden in den 1950er Jahren polizeilich aufgelöst, gegen die VVN selbst wurde ein jahrelanges Verbotsverfahren angestrengt, das letztlich auch deshalb scheiterte, weil bekannt wurde, dass der vorsitzende Richter selbst bereits unter den Nazis Jagd auf Kommunisten und andere Volksfeinde gemacht hatte. Bis heute wird die VVN vom Inlandsgeheimdienst bespitzelt und diffamiert mit der bemerkenswerten Begründung, dass es in ihren Reihen Kommunistinnen und Kommunisten gebe. Offensichtlich stellt es in den Augen des Verfassungsschutzes eine besondere Infamie der Kommunisten dar, dass sie sich von den Nazis haben verfolgen lassen.

Die vorherrschende Erinnerungskultur, die bis in unsere Zeit hinein reicht, macht die von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen oft genug zu unterschieds- und gesichtslosen Opfern, die nicht selten auch noch mit ihren Peinigern in einen Topf geworfen wurden. So ist etwa die einzige wesentliche Veränderung, die auf dem von den Nazis errichteten „Ehrenfriedhof“ vorgenommen wurde, eine nachträglich angebrachte Inschrift, die lautet: „Den Opfern von Krieg und Gewalt in aller Welt“. Gedacht wird hier der Soldaten der Naziwehrmacht gleichermaßen wie ihrer Opfer.
Es blieb lange Zeit einer linken Minderheit vorbehalten, darauf zu bestehen, dass die Opfer des Faschismus eben nicht nur Opfer waren, sondern individuelle Menschen, die hofften, handelten und Widerstand leisteten. So wurde lange Zeit der Mythos kolportiert, Jüdinnen und Juden hätten sich von den Nationalsozialisten wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Verleugnet wurde dabei nicht nur der gewaltige Anteil jüdischer Menschen am antifaschistischen Widerstand sondern auch der Kampf der jüdischen Partisanenorganisationen in den von den Nazis besetzten Ländern Osteuropas.

Wenn wir uns heute an den Gräbern der Ermordeten versammeln, dann kann es nicht nur darum gehen, an ihren Tod zu erinnern, sondern auch an ihr Leben, an das was sie gesagt und geschrieben haben und wofür sie gekämpft haben. An dieser Stelle liegen die Herausgeberinnen und Herausgeber der illegalen Widerstandszeitung „Der Vorbote“ begraben, in der sie immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Faschismus, Kapitalismus und Krieg hinwiesen.  Es lohnt sich auch heute noch, die Texte des „Vorboten“ zu lesen. Für die Mitgleder der Lechleiter-Gruppe, SozialdemokratInnen und KommunistInnen aus Mannheim und Heidelberg, stellte der Faschismus die barbarischste Konsequenz der kapitalistischen Gesellschaft dar und ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus betrachteten sie als Teil des größeren Kampfes gegen eine Gesellschaft, in der der Mensch nicht mehr wert ist als der Profit, der sich aus seiner Arbeitskraft ziehen lässt. Auf diesen Zusammenhang zielte auch der Schwur der Häftlinge von Buchenwald, den Faschismus mitsamt seinen Wurzeln zu vernichten.

Die Linke hat in den vergangen Jahrzehnten einige schmerzliche, aber sehr notwendige Lernprozesse durchgemacht. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass die Massen der Ausgebeuteten nicht nur Verführte waren, sondern dass der Faschismus über eine Massenbasis verfügte, die auch begierig bereit war, sich am Hab und Gut ihrer ermordeten Nachbarinnen und Nachbarn zu bereichern. Sich dieser Wahrheit zu stellen bedeutet aber nicht zu vergessen, wer die wirklichen Profiteure von Vernichtung und Krieg waren und welche gesellschaftlichen Strukturen den Faschismus hervorbrachten. Peter Gingold, der einen großen Teil seiner Familie in Auschwitz verloren hat, sagte vor drei Jahren in einem Interview mit der Zeitschrift Konkret: „Eben deshalb ist es wichtig, die Erinnerung an IG Farben als Symbol für das Bündnis von Kapital und Barbarei, Zyklon B und Auschwitz, wachzuhalten. Ich will, dass die Menschen noch in 2000 Jahren davon wissen, damit sie eine Wiederholung verhindern können. Ich lebe mit der Erinnerung an die Ermordeten meiner Familie, an ermordete Freunde und Genossen, aber ich kann auch nicht vergessen, wer sie ermordet hat, wie sie ermordet wurden und warum.“

Die Überlebenden, die aus eigener Erfahrung über ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus berichten können, werden immer weniger. Im vergangenen Jahr mussten wir von unserem Freund und Genossen Peter Gingold Abschied nehmen. Zu den bewegendsten Reden bei seiner Trauerfeier gehörten die Worte, die Kurt Goldstein sprach. Beide verband die gemeinsame Identität als Juden, als Deutsche und als Kommunisten. Zwei von diesen Identitäten hatten sie nicht gewählt, für die dritte hatten sie sich bewusst entschieden und sind ihr treu geblieben. Vor wenigen Wochen starb nun auch Kurt Goldstein, Spanienkämpfer, Kommunist und Ehrenpräsident des internationalen Auschwitz-Komitees. Ich möchte gerne einige Worte aus dem letzten Text zitieren, den er anlässlich einer Ausstellungseröffnung zum Jugendwiderstand im Dritten Reich verfasst hat und den er selbst nicht mehr vortragen konnte:

„Als Überlebender von Auschwitz und Buchenwald, als Kämpfer in den Internationalen Brigaden in Spanien muss ich sagen: es liegt noch viel Arbeit vor uns. Und: Vor Euch – denn meine Generation legt nun langsam und nicht ohne Schmerz ihr Vermächtnis in Eure Hände. Wir werden Euch begleiten, solange wir Kraft in uns spüren, doch dann wird es an Euch sein. Mein Wunsch und mein Rat ist: Niemals aufgeben, immer daran denken, dass es eine Zeit gab, die dunkler kaum sein kann. Erinnert Euch an uns, die wir in den Lagern nicht aufgaben, sondern jede noch so kleine Möglichkeit ergriffen, für Solidarität und Kameradschaft einzustehen. Erinnert Euch aber auch unserer Fehler und Versäumnisse, denn auch sie gehören zu uns. Wiederholt nicht den Fehler, den Antifaschismus nur einer Partei zu überlassen und enger und enger zu werden. Antifaschismus als einigendes Band muss offen für alle sein, die gegen Nazismus, Rassenwahn, Antisemitismus und Kriegstreiberei auftreten, die für ein friedliches und gleichberechtigtes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kulturen, Sprache, Religion oder Hautfarbe, mit verschiedenen Lebensentwürfen und Überzeugungen streiten. (...) Antifaschismus lebt vom Widerspruch, bleibt deshalb lebendig im Disput und lebt fort im Respekt und gegenseitiger Achtung für den Nachbarn und Genossen.“

Soweit Kurt Goldstein. Seine Worte sind für uns, die wir uns entschlossen haben, uns in der Tradition des antifaschistischen Widerstands zu begreifen, keine leicht zu schulternde Verpflichtung – in einer Zeit, in der die Nazis wieder offen durch die Straßen ziehen, in der selbst offener Antisemitismus in Deutschland Umfragen zufolge immer mehr Zustimmung findet; in einer Zeit, in der es Gegenden in Deutschland gibt, in denen sich Nichtdeutsche und Andersdenkende nicht alleine auf die Straße wagen können und in der Krieg rund um den Erdball wieder als legitimes Mittel der Politik gilt. Diese Verpflichtung erfordert mehr als nur Erinnerung, sie fordert Widerständigkeit und tatkräftiges Eingreifen. Und umgekehrt erfordert jeder Kampf um eine menschlichere, friedlichere und gerechtere Gesellschaft die Erinnerung an die Menschen des Widerstands, von denen bald niemand mehr unter uns sein wird. Tatsächlich: Es gibt Tote, bei denen wir im Wort stehen.