Hier dicke Luft, dort fröhliche Riesenfete

Mit der Polizei in der Walpurgisnacht unterwegs – Verbindungshäuser unter Objektschutz – 10 000 feiern auf der Thingstätte
Der 1. Mai ist schon mehrere Minuten alt, als einer der etwa 200 Demonstranten auf dem Marktplatz plötzlich mit weit aufgerissenen Augen auf seine Armbanduhr starrt. Es ist kurz nach Mitternacht. „O Scheiße“, zischt er und stößt seinen Nachbarn an, welcher nach einem kurzen Blick auf seine eigene Uhr unauffällig zur Seite tritt und ein Handy zückt. Er telefoniert nicht, sondern drückt umständlich auf den Tasten herum: eine elektronische Kurznachricht an alle. Es wird nun also gleich losgehen.
Harald Kurzer, der Sprecher der Polizeidirektion Heidelberg, steht in Zivil auf dem Platz vor der Heiliggeistkirche und betrachtet gelassen das hektische Treiben, das nun langsam einsetzt. Auch seine uniformierten, mit Pistolen und Schlagstöcken bewaffneten Kollegen, die den gesamten Marktplatz abgeriegelt haben, schauen mit verschränkten Armen zu, wie die Demonstranten aufbrechen. In kleinen Gruppen ziehen sie in Richtung Schlossberg, wo die meisten Verbindungshäuser stehen.
Die Korporierten haben auch dieses Jahr auf ihr traditionelles Maiansingen auf dem Marktplatz verzichtet und feiern stattdessen in ihren Villen. Am Anfang der Neuen Schlossstraße stehen nun mehrere Mannschaftswagen der Polizei, in denen etwa hundert Uniformierte auf Demonstranten warten. „Objektschutz“, sagt der Einsatzleiter der Polizei, Kriminaloberrat Heinz Gräter. Insgesamt sind in dieser Walpurgisnacht 200 Polizisten im Einsatz.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht beobachten Verbindungsstudenten vom Fenster ihres Hauses folgende Szene: Zunächst marschiert eine Schar nicht gerade bürgerlich aussehender junger Menschen mit nicht gerade freundlichen Minen die Straße hoch Richtung Schloss. Irgendwo klirrt Glas: Eine Flasche wurde auf ein Verbindungshaus geworfen. Sofort ertönen zwei Pfiffe, und ein gleichmäßiges Traben schwerer Stiefel setzt ein: Etwa ein Dutzend Polizisten joggen im Gleichschritt, mit baumelnden Schlagstöcken, den Demonstranten hinterher. Schließlich heulen die Motoren der Mannschaftswagen auf, welche mit grellem Blaulicht die Straße hochschießen. Währenddessen werden unten alle Wege zum Schloss mit Polizeiketten abgeriegelt.
Die Demonstranten wollen aufs Schloß. Sie dürfen nicht. In dieser Situation sei das aus Sicherheitsgründen nicht zu verantworten, erklärt Kurzer. Am Schloßeingang kommt es zu einer kurzen Rangelei zwischen Demonstranten und Polizisten, drei Personen werden für eine Stunde in Gewahrsam genommen. Auf dem Platz vor dem Schloßgarten stehen nun einige versprengte Demonstranten einer Mauer aus Polizisten gegenüber, schweigend, abwartend. Sie werden dies noch etwa eine Stunde lang tun, dann werden alle nach Hause gehen.
Kurzer fährt unterdessen mit seinem Dienstwagen zur Thingstätte auf dem Heiligenberg, wo mittlerweile die Walpurgisnacht in vollem Gange ist, wie der Polizeifunk mitteilt. Unterwegs erzählt er, dass er zufrieden mit der Taktik seiner Kollegen sei. Wahrscheinlich wird es trotzdem wieder von beiden Seiten Proteste geben: Von den einen, weil sie ein solch massives Polizeiaufgebot für übertrieben halten. Von den anderen, weil sie nicht einsehen, dass man die Demonstranten überhaupt erst bis vor die Verbindungshäuser ziehen lässt.
„ Das oberste Prinzip an diesem Abend lautet: Recht und Gesetz“ sagt Kurzer. Das bedeute aber auch, dass erst dann eingegriffen werde, wenn jemand eine Straftat begeht, was weder für das Maiansingen der Korporationen noch für das Trillerpfeifenkonzert der Demonstranten zutreffe. Nachdem jedoch die Flasche geflogen war, sei es konsequent gewesen einzugreifen, meint Kurzer.
Am Fuße des Heiligenbergs angekommen, wundert sich Kurzer über die „starke Abwanderungsbewegung“. Es ist nämlich erst ein Uhr, und das Wetter ist trocken und mild. Im Schritttempo lenkt er seinen Wagen durch den Menschenstrom. Es sind junge, lachende, Arm in Arm torkelnde und vor allem unpolitische Menschen, die im Lichtkegel der Scheinwerfer auftauchen und verschwinden.
Auf den letzten Schritten zu Fuß Richtung Thingstätte ist es so stockfinster, dass man von mehreren dunklen Gestalten mit Bieratem angerempelt wird.
Dann die Thingstätte: ein zum Bersten gefüllter, riesiger Hexenkessel aus friedlichen jungen Menschen, die trommelnd und trinkend im Schein von mehreren hundert Fackeln kauern. Die Polizei schätzt, dass es diesmal mindestens zehntausend sind, also wesentlich mehr als im letzten Jahr. Die Zufahrt für Autos ist frühzeitig gesperrt worden, also machten sich die Feierlustigen zu Fuß auf den Weg.
Die meisten haben kistenweise Bier den Berg hoch geschleppt. Die Flaschen und Dosen landen, wenn sie leer sind, im Wald. Der Inhalt, wenn er verdaut ist, auch. „Eine Sauerei“, findet Kurzer.
Es ist halb zwei, und viele machen sich schon auf den Rückweg. Nicht wenige kommen aber auch gerade erst an. Manche haben Schlafsäcke und Isomatten dabei. Für sie geht die Nacht jetzt erst richtig los. Für die Polizei jedoch ist das Schlimmste überstanden.
Das Großaufgebot in der Altstadt zieht gerade ab, wie Kurzer über Funk hört. Am Heiligenberg und am Schloßberg werden noch einige Wachposten bleiben. Alles in Allem war es eine ruhige Walpurgisnacht. Von den Zehntausend auf dem Heiligenberg wurde immerhin einer in Gewahrsam genommen. „Wegen Vollsuff“, so die Polizei.

Marcus Krämer, RNZ, 02.05.2000