Eine Nacht ohne besondere Vorkommnisse?

Unterwegs in der Altstadt: Die Burschenschaften singen; Linke und Polizei treffen aufeinander - Schlagstöcke und Schokolade

Von Alexander R. Wenisch

Die Nacht zum 1. Mai ist eine Nacht ritualisierter Provokationen. Junge Verbindungsstudenten kleiden sich in Farbe und pflegen altes deutsches Liedgut. Traditionell links orientierte Kommilitonen fühlen sich davon so provoziert, dass sie das nächtliche Singen stören wollen. Um etwaige gewalttätige Eskalationen - die in der Stadt ja schon vorgekommen sind - zu vermeiden, stellen sich Polizisten dazwischen, was wiederum die Linken provoziert. Deren Verbalattacken entgegen die Ordnungswächter manchmal nicht unbedingt mit Samthandschuhen.

Kurz nach 22 Uhr am Karlsplatz. Eine Gruppe linker Studenten besucht seit Jahren in der Nacht zum Mai Studentenverbindungen in friedlicher Mission: um sich auf einen Apfelsaft einladen zu lassen und die Burschen in politische Diskussionen zu verwickeln. Bei den Allemannen klappt dies heute nicht, obwohl sie hier vergangenes Jahr herein gebeten und freundlich bewirtet worden waren.
Die Polizisten, die vor dem Haus Streife stehen, sind misstrauisch. An die Diskussionsfreude der Sechs glauben sie nicht. Einer erzählt: "Wir haben bei denen schon Saft bekommen." Der leitende Polizist assoziiert "Saft bekommen" sofort mit "Schläge erhalten" und warnt: "Sie kennen das Polizeirecht. Was ist Ihnen lieber: gleich Platzverweis oder erst Personalien feststellen?"
Beides ist nicht nötig, weil die Studenten nach einem kurzem Gespräch weiter ziehen. Zuvor hatten sie bereits - ohne Polizeiaufsicht und völlig friedlich – mit Burschen des Corps Rhenania debattiert: über Bildungspolitik, die Kragenpflicht bei deren exklusiver Party in den Mai und über - in den Augen der Linken - reaktionäre Ansichten. Dies förderte zutage, dass sich anscheinend auch die Korporierten untereinander nicht koscher sind: Zwei Rhenanen stufen ihre eigene Verbindung nicht, die der Normannen und Allemannen aber wohl als "faschistisch" ein.
Etwa 23.30 Uhr am Kurzen Buckel. Die sechs wollen die Normannia besuchen, bei der sie 2002 eine Stunde lang Argumente, Saft und Schokolade getauscht hatten. Doch zehn Polizisten versperren heute den Weg unterhalb des Schlosses mit Gittern. Als die Studenten ankommen, zücken die Polizisten Schlagstöcke. Gleiches Bild am oberen Schlosseingang: Kein Durchkommen. Dabei bietet die Terrasse den besten Blick in den Garten der Normannen, dem einzigen Corps, der sich das Singen nicht vermiesen lässt.
Die Turmuhren schlagen Mitternacht. Mittlerweile sind vielleicht 50 Linke den Berg hinauf gekommen. Aus der Entfernung sind die Sänger der Normannia schemenhaft im Fackelschein zu erkennen. Sie singen den Mai an - ein altes Ritual. Oft genug, beklagen einige Linke, würde das "Deutschlandlied" in allen drei Strophen intoniert. Heute sind die Texte nicht zu verstehen. Früher hatten die Korporierten den Mai auf dem Marktplatz begrüßt. Seit Mitte der 90er – nach Ausschreitungen zwischen Autonomen und Burschen - dürfen sie aus Sicherheitsgründen dort nicht mehr singen. Dafür beanspruchen jetzt linke Gruppierungen diesen Platz; in diesem Jahr veranstaltete das Autonome Zentrum vor der Jesuitenkirche ein Punk-Konzert mit etwa 250 Besuchern.
Gegen 1 Uhr. Polizisten haben die Neue Schlossstraße, die am Haus der Frankonia vorbei führt, gesperrt. Zum ersten Mal in dieser Nacht kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Linken und Polizei. Provokationen auf beiden Seiten. Die Studenten wollen es sich nicht verbieten lassen, die Straße zu benutzen, und stellen sich den Beamten trotzig in den Weg. Diese reagieren aggressiv. "Verlassen sie sofort die Straße", brüllen sie die Studenten an, "oder wir wenden Gewalt an." Die Linken beschimpfen die Polizei, weil diese in ihren Augen die Burschenschaften schützen. Handgreiflichkeiten, Verbalattacken. Ein Polizist in zivil entgegnet einer jungen Studentin: "Dass bei euch solche Frauen das Wort führen, ist eine Schande." Ein Spiel mit Provokationen, sagt er später, darauf angesprochen. Er sei nicht zimperlich in seinen Äußerungen; vielleicht habe er eine etwas antiquierte Meinung über Frauen, aber das Grundgesetz sichere auch ihm das Recht auf freie Meinungsäußerung zu.
Etwa 20 Minuten dauern die Auseinandersetzungen. Ein Linker wird abgeführt: Arme auf den Rücken gedreht, Kopf Richtung Boden. Die Polizei meldet später: "Keine besonderen Vorkommnisse in der Nacht."
 

Rhein-Neckar-Zeitung, 02.05.2003